Der Landkreis Elbe-Elster ist eine der strukturschwächsten Regionen Brandenburgs. Hier erhielt die AfD schon 2019 mehr als die Hälfte der Stimmen. Und jetzt? Ein Besuch im blauen Land.

Lukas Kramer lehnt an seinem schwarzen Skoda Fabia, eine Selbstgedrehte im Mundwinkel wie ein Cowboy, und erklärt die Lage in seiner Brandenburger Heimat. „Linke“, sagt er trocken, „wirste hier kaum finden, hier wählen alle die AfD.“

Auch die jungen Leute. Auch er. „Aber“, er nimmt die Kippe aus dem Mund, „sind wir deswegen rechtsextrem? So seht ihr uns doch.“ Ihr Medien, ihr da oben.

Ein matschiger Parkplatz im Städtchen Elsterwerda, Landkreis Elbe-Elster, Südbrandenburg. Lukas Kramer*, 23 Jahre alt, kommt gerade aus der Berufsschule gegenüber, wo er eine Ausbildung macht.

Ein schmaler Kerl mit krausem Haar, neugierigem Blick und dunkler Kleidung. Kein Verschwörungsmythiker oder Neonazi. Eher der pragmatische Handwerker-Typ. Ein junger Mann vom Land.

Im September, wenn in Brandenburg Landtagswahl ist, wird er zum zweiten Mal in seinem Leben die AfD wählen. Er ist sich nicht ganz sicher, ob er das so öffentlich sagen sollte. Andererseits: Er kennt kaum jemanden, der anders denkt als er.

In Elbe-Elster, das merkt man schnell, gelten andere politische Kräfteverhältnisse als in den Großstädten.

Es gibt Orte hier, da bekam die Partei schon 2019, bei der letzten Kommunalwahl, mehr als 50 Prozent der Stimmen. Und je näher die Landtagswahlen rücken, desto härter ringen die Leute mit sich. Desto unversöhnlicher geht es zu.

Seit Wochen gehen Menschen hier auf die Straße. In Orten, die Lauchhammer, Herzberg, Bad Liebenwerda und Finsterwalde heißen.

Die einen demonstrieren sonntags gegen rechts, gegen die AfD. Die anderen versammeln sich montags gegen die Politik der Regierung in Berlin.

Fährt man über die Landstraßen der Region, rauschen einem Minivans entgegen, die mit Parolen bemalt sind: „Es reicht! Die Ampel muss weg! Zu viel ist zu viel!“

An fast jedem Ortsschild hängen Gummistiefel, teilweise sind Kreuze daraufgesprüht. Spuren der wütenden Landwirte.

Es wehen Reichsflaggen in den Gärten, mit Wehrmachtshelm darauf. Oder Fahnen mit dem Schriftzug: „Ami go home!“

Der Unmut schreit einen förmlich an in Elbe-Elster. Und man fragt sich, woran das eigentlich liegt. Warum es ausgerechnet hier, zwei Stunden südlich von Berlin, so aufgeheizt ist, warum es an manchen Tagen so wirkt, als stehe bereits alles auf dem Spiel: die Ordnung, der Zusammenhalt, die Demokratie als Ganzes.

Lukas schlägt vor, uns das Dorf zu zeigen, aus dem er kommt: Lausitz, etwa 15 Minuten von Elsterwerda entfernt, ein 320-Seelen-Ort an der B183.

Das Haus der Kramers liegt kurz vor dem Ortsende. Brauner Spritzbeton, im Vorgarten Nadelsträucher im Formschnitt, drumherum nichts als Felder. Es ist laut. Über die Bundesstraße, die direkt am Gartentor vorbeiführt, donnern die Lkw.

Im Hintergrund, nur knapp einen Kilometer entfernt, erheben sich Windräder über das Dorf, ragen empor wie Wolkenkratzer. Die Skyline der Peripherie.

Hinten im Hof bellt Riesenschnauzer-Dame Basra. Offenbar hat Lukas uns angekündigt. Aus dem Schuppen ruft jemand: „Hier sind die Rechten!“

Wenig später kommt ein stämmiger Mann in farbbekleckster Hose und Arbeiterjacke heraus, einen Pinsel in der Hand.

Heiko Kramer*, 57, der Vater von Lukas. Er lacht und sagt, er habe Kaffee gekocht, führt nach hinten, wo drei Laufenten durch den Garten watscheln und im Stall die Hühner gackern. Auf einer überdachten Terrasse nehmen Vater und Sohn an einem Steintisch Platz.

Warum sind so viele hier so unzufrieden?

Lukas deutet auf die Windräder. 34 Anlagen, direkt vor ihrer Nase. „Laut sind die“, sagt er. Vor allem nachts höre man das Wuschwuschwusch, wenn der Verkehr ruhiger sei.

Im Sommer würden sie Schatten werfen, und wenn es dunkel werde, würden die Leuchtfeuer blinken. „Zu Weihnachten ganz schön“, sagt Heiko. Ein Witz. Aber lustig findet er es nicht. Der Wert seines Hauses sinke, sagt er.

Brandenburg ist das Land, in dem nach Niedersachsen die meisten Windräder stehen. Trotzdem sind die Strompreise hier so hoch wie nur an wenigen anderen Orten in Deutschland.

Dietmar Woidke, der Ministerpräsident, kritisiert das seit Jahren, die Ungerechtigkeit, die sich durch die hohen Netzentgelte ergebe. Aber geändert hat sich bislang nichts.

Die Preise bleiben hoch. „Wo ist da der Sinn“, fragt Lukas. „Ich hab die Dinger vor der Nase, aber nicht den günstigen Strom, den sie produzieren.“ Nur ein Beispiel, warum er und sein Vater so unzufrieden seien. Warum sie ihre Stimme der AfD gäben.

Denn wenn es keine Windräder gibt, gibt es auch keine ungerechten Strompreise mehr.

„Hier wählen alle die Blauen“, sagt Vater Heiko. „Die anderen fahren das Land doch an die Wand, war schon unter Merkel so.“

Er arbeitet als Schlosser in einer Molkerei. Immer Nachtschicht, sechs Tage die Woche, sagt er. Alle, mit denen er arbeite, alle in der Nachbarschaft, alle würden genau dasselbe denken: „Politik am Arsch. Der Krieg, was geht uns der Krieg an? Warum redet keiner mit Putin? Gas könnten wir auch günstiger bekommen. Und der Ami? Der will nichts Gutes.“

Es geht von einem Thema zum nächsten. Als wüssten Vater und Sohn nicht, worüber sie sich zuerst aufregen sollen. Die Ex-Kanzlerin, der Russe, der Ami, der Krieg, das Gas. Natürlich auch die Flüchtlinge, die, wie sie glauben, alles bekämen, ohne etwas dafür zu tun.

Es ist alles irgendwie eins. Die komplizierte Welt da draußen, die Sorgen hier vor Ort. Die große Politik im Schatten der Windräder.

Früher, sagt Heiko, habe es hier in jedem Ort eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft gegeben, eine LPG. Auch er sei ursprünglich Bauer gewesen.

Nach dem Mauerfall aber schulte er um, ging viele Jahre immer wieder auf Montage, baute Getränkewerke in Afrika auf.

Er war jung damals, so alt wie Lukas heute, er konnte mit dem Wandel umgehen. „Aber so viele Menschen sind arbeitslos geworden“, sagt er. Der Frust säße tief.

Die Wende hat ihre Spuren hinterlassen in der Region. Seelische Wunden. Die Ethnologin Juliane Stückrad bezeichnet sie als „Verlusterfahrungen“, als einen „großen Schmerz“.

Stückrad kommt aus Eisenach, hat aber selbst lange in Elbe-Elster gelebt. Sie hat sich wissenschaftlich mit den Menschen hier beschäftigt und ein Buch über sie geschrieben: „Die Unmutigen, die Mutigen“.

Die Region, sagt sie, gelte schon seit vielen Jahrhunderten als strukturschwach. Als eine Gegend mit schlechten Böden, wenig Industrie, um die die Handelswege immer herumführten.

„In der DDR ist das überdeckt worden“, sagt sie. Die LPGs und Betriebe hätten eine „Rundumversorgungsstruktur“ geboten.

Geregelte Arbeitszeiten, Lebensmittel, Kinderbetreuung, Kulturveranstaltungen. „Der Alltag war überschaubar, alles war geregelt.“

Vieles davon sei mit der Wende zusammengebrochen. Der klar geordnete Alltag, die Struktur.

Die Euphorie über die friedliche Revolution und die Grenzöffnung sei hier, weit weg von der Mauer, kaum spürbar gewesen. Stattdessen kam es zu Massenarbeitslosigkeit.

Noch im Jahr 2000 hatten 25 Prozent keinen Job. Fast eine ganze Generation junger Menschen habe die Gegend nach 1990 verlassen. „Die, die blieben, übernahmen die Verlusterzählungen ihrer Eltern“, sagt Stückrad. Die Distanz zum System.

Ein paar Tage später, ein Mittwochabend. Im Proberaum der Musikschule von Bad Liebenwerda, der nächstgelegenen Stadt, riecht es nach Schweiß.

Die Schülerband Risiko probt ihren letzten Song. Nils, Timo, Nora und Sophie, 15, 16 Jahre alt, kommen aus den Nachbarorten von Lausitz, aus Gröditz, Maasdorf, Kröbeln und Nieska.

Sie gehen alle auf dasselbe Gymnasium in Elsterwerda. Und sie alle gehen zu den Demos gegen rechts.

Nils singt: „Ich stehe in einem grauen Nichts zwischen Spießern und ein paar Nazischweinen, aber es ist okay, solange du mich nicht alleine lässt.“ Er ist ihr Anführer, der Lead-Sänger.

Jeden Tag kommt er hierher in die Musikschule, lernt Klavier, nimmt Gesangstunden, bereitet sich auf die Aufnahmeprüfung für ein Musikstudium vor.

Was die vier über die Rechten in ihren Dörfern berichten, klingt fast wie ein Klischee. Beim letzten Dorffest hätten zu später Stunde alle Anwesenden den Hitlergruß gezeigt, sagt Nils.

Schlimm sei es vor allem in der Schule, sagt Timo. Hakenkreuze, die in die Wand geritzt werden, Hitlergrüße im Unterricht, Mitschüler, die die deutsche Nationalhymne singen – alle Strophen.

Zecken würden die vier von der Band genannt. „Da kommt der Feind“, werde ihnen entgegengebrüllt. Mainstream, das bedeute hier in der Gegend, rechts zu sein.

Sie erzählen von ihren Eltern, die nicht mit ihnen auf die Demos gehen. Die seien keine Nazis und würden wahrscheinlich auch nicht die AfD wählen. Zumindest glauben sie das.

Links seien die Eltern aber auch nicht. Sie hätten viel Kritik an der Regierung. Es gebe Diskussionen zu Hause, sagt Nils, warum er auf die Demos gehe. Sein Vater sei eher bei den Kundgebungen der Bauern in Bad Liebenwerda.

Vielleicht standen sie dort nebeneinander, die Väter von Nils und von Lukas. Denn das, so scheint es, haben sie gemeinsam, die jungen Linken und die jungen Rechten: Eltern, die sich den Protesten der Bauern anschließen. Gegen Energiepreise, Fachkräftemangel und Bürokratie demonstrieren.

Er kenne mehrere kleinere Baufirmen, die bereits Pleite gemacht hätten, sagt Lukas’ Vater Heiko in seinem Garten. „Da kriegst du Gänsehaut.“

Er befürchtet, am Ende seien nur noch die großen da, wie zu DDR-Zeiten die Kombinate. „Ist das rechts, das nicht gut zu finden?“

Heiko Kramer lebt schon sein Leben lang in Lausitz, seine Eltern bauten einst das Haus, in dem sie noch heute alle wohnen. Er schwärmt von den Dorffesten, die es hier zu DDR-Zeiten gab. Und auch danach noch.

Er erzählt von der 800-Jahr-Feier des Dorfes, 1997. „Da warst du noch flüssig“, sagt er zu seinem Sohn, der erst vier Jahre später zur Welt kam.

In seinem eigenen Dorf habe er sich verlaufen, so viele Buden hätten hier gestanden. Einen Umzug gab’s, sein Vater, der bei der LPG arbeitete, sei als „Urmensch“ gegangen, die Kostüme kamen aus dem Filmpark Babelsberg.

Es war ein letztes Aufflackern der alten Zeit, sieben Jahre nach der deutschen Einheit. So viel sei nie wieder los gewesen hier, sagt Heiko. Eine richtige Gemeinschaft habe es da noch gegeben, wie in der DDR.

Ein Jahr später, bei den Kommunalwahlen, wurde die SPD mit 38 Prozent und weitem Abstand stärkste Kraft in Brandenburg. Auch Heiko gab ihr seine Stimme.

Doch in Elbe-Elster verkauften sich die Demokratie und die Marktwirtschaft nicht besonders gut. Wie in vielen strukturschwachen Regionen im Osten.

So beschreibt es Juliane Stückrad, die Ethnologin. „Karrieristen“ hätten die Leerstellen zu ihrem Vorteil genutzt.

Die Ostdeutschen, die dringend Jobs brauchten, hätten in jener Zeit Diskriminierungen erlebt, seien von oben herab behandelt, häufig schlecht bezahlt worden.

Mit anderen Worten: Der westdeutsche Kapitalismus zeigte sich genau so, wie im Staatsbürgerkundeunterricht immer beschrieben.

Auch Heiko machte diese Erfahrungen. Als er kurz nach dem Mauerfall mit seiner Frau und Lukas’ Bruder zum ersten Mal in den Westen fuhr, um Verwandte zu besuchen und das Begrüßungsgeld abzuholen, lernten sie ein Paar aus Hildesheim kennen.

Wer seid ihr, wo kommt ihr her, hätten die gefragt. Kommt doch auf dem Rückweg bei uns vorbei. „Herzensgute Menschen“, sagt Heiko. Später wurden die beiden ihre Trauzeugen. Heute hätten sie kaum noch Kontakt.

„Die dachten, wir hatten nüscht. Sind mit uns einkaufen gegangen, haben uns den Wagen vollgeladen. Wir kamen uns vor wie Bettler“, sagt er.

Als er später auf Montage nach Baden-Württemberg fuhr, sagten die Kollegen: Ihr aus’m Osten wisst doch nicht mal, wie eine Banane aussieht.

Erfahrungen, die vielleicht jetzt wieder hochkommen, wenn Bauern, Handwerker und Spediteure, die aus Frust über die Verhältnisse auf die Straße gehen, von Politikern in Berlin als rechts bezeichnet werden. Das Gefühl, missverstanden, von oben herab behandelt zu werden.

Aber muss man aus Frust eine Partei wählen, die gegen Flüchtlinge hetzt und hier in Brandenburg nachweisbar Verbindungen zur rechtsextremen Szene pflegt?

Es antwortet jetzt wieder Lukas, der Sohn: Klar, auch bei der AfD sei „nicht alles schön, was die sagen“. Aber es gebe doch immer ein Für und ein Aber. „Das war schon bei Hitler so.“ Das müsse man in Kauf nehmen.

Definitiv kein Nazi.

Es brauche „einen kompletten Austausch“, die „Politik an sich“ müsse sich ändern. Bei Hitler? Ein Für und Aber?

Hitler habe die Menschen von der Straße geholt, sagt Lukas, habe erfolgreich die Arbeitslosigkeit bekämpft. Und der Holocaust? Die sechs Millionen Juden, die ermordet wurden?

„Das ist natürlich schwierig“, sagt Lukas.

Es dämmert. Der Vater geht ins Haus, er will sich nochmal hinlegen vor der Nachtschicht. Der Sohn möchte uns etwas zeigen.

Er nimmt den Schlüssel, verlässt das elterliche Grundstück, führt über die Dorfstraße vorbei an grauen Häusern mit heruntergelassenen Rollos.

Nach einer Weile biegt er rechts ab, läuft über einen schmalen Weg zwischen zwei Häusern zu einem kleinen Bau mit unverputzten Wänden. „Mitten im Nichts“, sagt er und schließt auf.

Ein Billardtisch, eine Dartscheibe an der Wand, zwei speckige Ledersofas. Eine Bar, verziert mit Hunderten Kronkorken. Der Jugendclub von Lausitz.

Mit 15 Jahren kam Lukas zum ersten Mal her. Glaubt er. Zu viele durchsoffene Nächte sind seither vergangen. Irgendwann sei der Schlüssel an ihn weitergegeben worden. Seitdem sei er der „Betreiber“.

Er stellt sich hinter die Theke, sein angestammter Platz. Er greift nach unten, hebt drei Flaschen Ur-Krostitzer nach oben, lässt sie aufploppen. Früher hätten sie sich hier jedes Wochenende getroffen, sagt er. Heute seltener.

Die meisten seien inzwischen weg, in Dresden oder Berlin, für eine Ausbildung oder ein Studium. Selbst seine Freundin arbeitet heute in Leipzig, kommt nur noch am Wochenende her.

Nur er ist noch da. Er und ein Kumpel. Die letzten Mitglieder des Jugendclubs von Lausitz.

„Hier geht’s vor allem ums Trinken“, sagt er. „Ums Saufen.“ Zu später Stunde könne es auch mal sein, dass eine Parole geschwungen werde. „Die scheiß Ausländer!“, „Hoch die Tassen, trennt die Rassen!“

Mit politischen Überzeugungen habe das nichts zu tun, erklärt Lukas. Das sei „einfach ein übelst dummer Spruch.“ Aber dagegen etwas sagen? Will er auch nicht. Dann wär’ er ja die Zecke.

Er erzählt von seiner Jugend, davon, wie er kaputte Motorräder aufmöbelte und weitervertickte, von der Freiwilligen Feuerwehr, bei der er eine Zeitlang war, vom Motocross-Fahren.

Davon, wie er nach der Berufsschule seinem Vater helfen, für die Nachbarn den Ölwechsel erledigen müsse. Vom Alltag auf dem Land.

Er klingt stolz, dann wieder klagt er. Nur manchmal ist zu erahnen, wie er über sein Leben denkt. Mit 23 noch bei seinen Eltern zu leben, während alle anderen weg sind.

Wie eintönig dieser Alltag manchmal ist. Welches Risiko es bedeuten würde, hier anders zu sein, anders zu denken.

Der Sonntag ein paar Tage zuvor. Auf dem Marktplatz von Elsterwerda haben sich etwa 300 Leute versammelt. Man sieht Regenbogenfahnen, Antifa-Banner, Flaggen des Gewerkschaftsbundes.

Junge Familien mit Kindern und alte Rentner. Auch Timo und Nils sind da, die beiden Schüler von der linken Band. Timo hält ein Schild hoch: „Nazis raus ruft es sich leichter da, wo es keine Nazis gibt.“

Vorne auf der Bühne erzählen Redner von Einschüchterungsversuchen der Rechten. Von Autos mit getönten Scheiben, die vor ihren Häusern parkten, mit laufendem Motor und dröhnendem Rechtsrock.

Von Blumensträußen, die ihren Familien geschickt wurden, mit zweideutigen Grußbotschaften. Man habe versucht, eine private Sicherheitsfirma für die Demo gegen rechts zu engagieren.

Überall hätten sie dieselbe Absage erhalten: Für „solche“ Versammlungen gebe es nicht das passende Personal.

Uff

Es wird Musik gespielt. „Schrei nach Liebe“ von den Ärzten, die alte Anti-Nazi-Hymne. Die Leute auf dem Marktplatz klatschen in die Hände, singen, als müssten sie sich selbst Mut machen.

Plötzlich, wie aus dem Nichts, tauchen am Rand etwa 50 dunkel gekleidete Männer auf.

Sie tragen Sonnenbrillen, scharf rasierte Scheitel, einer hat einen Reichsadler über der Kehle tätowiert. Lässig schlendern die Männer auf die Menge zu.

Polizisten treten heran. Höflich bitten sie, sich nach hinten zu stellen. Es wird gelacht, es wirkt, als würde man sich kennen.

Die Menschen, die gerade noch gesungen haben, wirken wie erstarrt. Es gibt keine Barriere zwischen ihnen und den Rechten, keine Absperrungen. Es sind viel zu wenig Polizisten da.

Komisch, wie solche Fehler immer nur bei linken Demos passieren.

Am Ende strömen die dunkel gekleideten Männer auseinander. „Die verteilen sich in der Stadt“, ruft jemand.

„Passt auf euch auf“, ein anderer. Schnell leert sich der Marktplatz. Die Demo-Besucher verschwinden in ihren Häusern. Aus Angst.

Ein paar Jugendliche bleiben zurück, auch Timo und Nils. Sie haben keine Angst. „Sowas ist hier Alltag“, sagt Nils.

„Die meisten sind eh nur Mitläufer, die keine eigene Meinung haben.“ Er und seine Freunde kennen die Rechten.

Es sind ihre Nachbarn und Mitschüler, die Menschen, die ihnen jeden Tag über den Weg laufen. Noch sind sie es.

Nils, Timo, Nora und Sophie, die vier von der Band, wollen weg von hier. Sobald die Schule vorbei ist. Nach Leipzig, Berlin, vielleicht ins Ausland.

Zum Studieren, für eine Musikerkarriere, eine Ausbildung zur Rettungssanitäterin. Hauptsache weg aus der Enge ihrer Dörfer. Weg von den Rechten. Weg aus dem blauen Land.

Es war schon immer so hier. Elbe-Elster, die ewig strukturschwache Gegend, seit vielen Jahrhunderten. Der einzige Brandenburger Landkreis ohne Autobahnanschluss.

Vielleicht ist auch das etwas, was sie voneinander trennt, die Linken und die Rechten: die Frage nach dem Bleiben oder dem Gehen.

Als entscheide diese Frage nicht nur über ihre berufliche Zukunft, sondern sage auch etwas aus über ihre politische Haltung. Darüber, wem sie ihre Stimme geben, zu wem sie gehören.

Lukas wird bleiben. Im Jugendclub sagt er nach ein paar Bier: „Auf keinen Fall gehe ich hier weg.“ Hier, wo seine Familie herkommt, wo er an Autos und Mopeds schraubt, wo die meisten so denken wie er.

Wo die Leuchtfeuer der Windräder in der Nacht blinken. Klar, er würde anderswo mehr verdienen, vor allem mit seiner Ausbildung, der höchsten, die man als Elektriker machen könne.

Er könnte sich dann vielleicht eine eigene Wohnung leisten, müsste nicht mehr seinem Vater täglich beim Schrauben helfen.

Aber wohin, fragt er. Er sei mal in Leipzig gewesen, da habe er erlebt, wie ein Mann auf der Straße mit einer Knarre in die Luft schoss. „Kulturschock“, sagt Lukas. Und Berlin? „Niemals, viel zu dreckig.“

Er klingt entschieden und dann auch wieder ein bisschen, als rede er mit sich selbst, als argumentiere er gegen seine eigenen Zweifel. Er hält einen Moment inne, nimmt einen Schluck.

Dann sagt er: „Ich würde echt gern mal für einen Tag mit euch tauschen.“ Einen Tag lang das Großstadtleben ausprobieren.

Er würde dort sicher depressiv werden, hätte keine Ahnung, was er zwischen all den Menschen machen solle. Aber interessieren, sagt er, würde es ihn schon.

  • @Ekybio
    link
    Deutsch
    223 months ago

    Ja, bei der Aussage ist mir auch das Telefon fast aus der Hand gefallen.

    Eigentlich will ich meine Mitmenschen ungern als politisch verloren abstempeln, aber hier mache ich mal eine Ausnahme.