Links? So hat sie sich lange nicht gesehen. Jetzt will Flüchtlingskapitänin Carola Rackete die Linke ins EU-Parlament führen – und schlägt eine Umbennung der Partei vor.

Carola Rackete wurde 2019 als Kapitänin des Seenotrettungsschiffes “Sea-Watch 3” weltberühmt. Wochenlang durfte sie 52 aus dem Meer gerettete Flüchtlinge nicht an Land bringen, schließlich steuerte sie ohne Erlaubnis den Hafen der Insel Lampedusa an. Das eigentliche Thema der 35-Jährigen ist aber der Klima- und Umweltschutz. Sie hat bereits an zahlreichen Forschungsmissionen, unter anderem in die Antarktis, teilgenommen. Nun will sie die krisengeschüttelte Linkspartei ins Europaparlament führen – am Wochenende soll sie zur Spitzenkandidatin gewählt werden.

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ZEIT ONLINE: Als Sie im Sommer 2019 als Kapitänin des Rettungsschiffes Sea-Watch 3 vor Lampedusa lagen, wurden Sie weltberühmt. Sie waren für die Seenotrettung eine ähnliche Ikone wie Greta Thunberg für die Klimabewegung. Nun trat Thunberg auf einer Demonstration in Amsterdam mit einem Palästinensertuch auf und skandierte: “Keine Klimagerechtigkeit auf besetztem Land!”. Sehen Sie das auch so?

Rackete: Nein, damit stellt sich Thunberg nur auf eine Seite. Das ist falsch. In diesem Konflikt gibt es mindestens zwei Seiten. Es gibt die Hamas, die die israelischen Geiseln verschleppt hat, noch immer gefangen hält, obwohl sie sie eigentlich sofort freilassen müsste. Und es gibt die palästinensische Zivilgesellschaft, die unter den Bomben der israelischen Regierung leidet und für die ein Waffenstillstand extrem wichtig wäre. Das muss man beides beleuchten.

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ZEIT ONLINE: Vor der Spaltung steht auch die Partei Die Linke, zu deren Spitzenkandidatin für die Europawahl sie am Wochenende gewählt werden wollen. Die Bundestagsfraktion wird demnächst aufgelöst, die Umfragewerte sind mies. Haben Sie auf die falsche Partei gesetzt?

Rackete: Auf keinen Fall! Jetzt legen wir den Grundstein zur Erneuerung. Der Austritt von Sahra Wagenknecht ermöglicht uns, eine moderne linke Gerechtigkeitspartei aufzubauen. Jetzt hören wir auf, Menschen gegeneinander auszuspielen. Ich nehme Wagenknecht ja durchaus ab, dass sie ein ernstes Interesse an Menschen in prekären Verhältnissen hat. Aber sie denkt nationalistisch und bezieht sich nur auf Menschen mit deutschem Pass. Das geht nicht.

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ZEIT ONLINE: Sie wollen eine Aktivistin im Europaparlament bleiben?

Rackete: Ja, denn ich sehe mich mehr als Aktivistin und weniger als Politikerin. Ich trete ja als parteilose Kandidatin an und will mir meine Unabhängigkeit bewahren. Der gesellschaftlichen Linken und den sozialen Bewegungen fehlt die Vernetzung in die Parlamente. Diese Lücke will ich füllen – auch weil in der Klimabewegung das Vertrauen in die Grünen extrem gesunken ist.

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ZEIT ONLINE: Es liegt also nicht an Ihrem Namen, dass Sie so politisch, so radikal geworden sind?

Rackete: Nein, eher an verschiedenen Erfahrungen: Auf meiner ersten Reise nach Südamerika, da war ich 20, habe ich in Bolivien wirkliche Armut gesehen. Das hat mich schockiert. 2011 bin ich mit einem Forschungsschiff zum ersten Mal zum Nordpol gefahren und war erschrocken, wie wenig Eis es dort noch gab. Ich dachte ganz naiv, um die Klimakrise kümmern wir uns erst im Jahr 2050. Plötzlich wurde mir klar, wie dringend das ist! Danach bin ich zu Greenpeace gegangen. Außerdem habe ich mich bei Sea-Watch engagiert, einer Organisation, die Flüchtlinge aus dem Meer rettet. Als ich dort im Einsatz war, wurde mir klar, dass kein Zufall ist, was an den europäischen Außengrenzen passiert. Die Menschen werden nicht aus Versehen nicht gerettet, sondern das passiert ganz systematisch.

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ZEIT ONLINE: Sie wollen mit Ihrer Kandidatur für das Europaparlament nun Menschen ansprechen, die für radikalen Klimaschutz und eine offene Flüchtlingspolitik sind. Dieses Milieu scheint immer kleiner zu werden.

Rackete: Ich glaube nicht, dass man der Gesellschaft etwas Gutes tut, wenn man wie Olaf Scholz rhetorisch immer weiter nach rechts rückt. Seine Äußerung, man müsse jetzt “im großen Stil” abschieben, ist mit den Genfer Flüchtlingskonvention nicht vereinbar. Abschiebungen tragen nicht zur Lösung des Problems bei. Sie sind oft gar nicht möglich. Scholz sagt diese populistischen Sätze nur, weil er sich von ihnen Wählerstimmen erhofft.

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ZEIT ONLINE: Schon heute liegt die AfD im Osten bei 30 Prozent, im Westen bei 20 Prozent. Sie wird vor allem für ihre migrationsfeindliche Politik gewählt. Wie reagieren Sie auf dieses Dilemma?

Rackete: Es gibt eine große Verunsicherung, auch weil das neoliberale Versprechen, dass alle immer reicher werden, nicht mehr funktioniert. Deswegen brauchen wir mehr soziale Absicherung. Das ist das einzige Gegenmittel gegen die AfD, das wirklich hilft. Es braucht eine massive Umverteilung. Wir könnten eine echte Kindergrundsicherung aufbauen, den Mindestlohn anheben und eine Vermögenssteuer einführen. Da gibt es viele Möglichkeiten. Wenn es Probleme in den Kommunen gibt, weil es zu wenige Unterkünfte oder auch zu wenige Kita- oder Schulplätze gibt, ist das doch nicht die Schuld der Flüchtlinge. Wir investieren seit Dekaden viel zu wenig in die öffentliche Infrastruktur.

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ZEIT ONLINE: Sie wurden von der Linken aber auch nominiert, weil die damit ein Signal der Abgrenzung von Wagenknecht und ihrer restriktiven Migrationspolitik setzen wollten. Fühlen Sie sich da nicht auch ein bisschen benutzt?

Rackete: Dass die Linke ein Interesse daran hat, meine Popularität zu nutzen, ist klar. Damit habe ich kein Problem. Ich habe mich für die Kandidatur entschieden, weil mich stört, dass man viel zu wenig davon mitbekommt, was auf EU-Ebene entschieden wird – obwohl es extrem wichtig ist.

ZEIT ONLINE: Wie ist das eigentlich, eine Ikone zu sein?

Rackete: Schwierig. Ein bisschen geht es mir wie Daniel Radcliffe, der ist für alle immer noch Harry Potter. Ich arbeite seit vielen Jahren zum Thema Klimaschutz, aber für die meisten bin ich immer noch die Flüchtlingskapitänin. Ich muss immer wieder sagen, dass ich mich zwar für Migrationsfragen interessiere, aber mein eigentliches Interesse dem Klimaschutz gilt. Damit aber dringe ich irgendwie nicht richtig durch.

ZEIT ONLINE: Als wie links würden Sie sich selbst beschreiben?

Rackete: Früher habe ich mich nicht als links bezeichnet, weil ich damit nicht viel anfangen konnte. Aber meine Positionen überschneiden sich natürlich sehr stark mit denen, die im Wahlprogramm der Linken stehen. Begriffe wie links und rechts helfen in der Regel wenig, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Zu Anfang des Jahres war ich mal wieder auf einem Forschungsschiff. Dort habe ich mich mit Besatzungsmitgliedern unterhalten. Die haben am Ende gesagt, “Ach, war gut, dass du hier warst. Du bist ja gar nicht so, wie wir uns das gedacht hatten.” Das hat mir wieder gezeigt: Schubladendenken hilft nicht, um mit anderen in Kontakt zu kommen.

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ZEIT ONLINE: Hängt der Linken ihre SED-Vergangenheit wirklich noch so sehr nach?

Rackete: Ich habe viel mit Leuten über meine Idee gesprochen, mich bei der Linkspartei zu engagieren. Es gibt eine Gruppe, die sagen, die Partei hat sich von ihrer Vergangenheit nicht richtig distanziert. Und solange das nicht anders aufgearbeitet wird, könnten sie sich nicht vorstellen, sich dort zu engagieren. Das sehe ich aber wirklich nicht als das größte Problem der Linkspartei.

ZEIT ONLINE: Sie treten nun in einer immer weiter nach rechts driftenden Gesellschaft an. Was wird im Wahlkampf passieren?

Rackete: Ich hoffe, dass wir es schaffen, bei grundlegenden Themen eine neue Klarheit reinzubringen, eine ökologische und soziale Ehrlichkeit. Wir müssen klarmachen, dass die EU an einem Scheideweg steht: Haben in Zukunft diejenigen die Mehrheit, die sich für Menschenrechte und Klimagerechtigkeit engagieren oder überlassen wir sie Rechten und Faschisten? Wenn das passiert, würde jedes progressive Projekt scheitern. Viele Leute halten die Europawahl ja nach wie vor nicht für besonders wichtig. Deswegen ist mein Hauptfokus: den Leuten verdeutlichen, warum die Entscheidungen in Brüssel wichtig sind und es sich lohnt, wählen zu gehen.